Nicht Gendern spaltet die Gesellschaft, Spalten tut es

Ich nutze den freien Tag heute einmal, um einen Artikel zu schreiben, der mir schon länger durch den Kopf ging und in den letzten Tagen etwas an Aktualität gewann. Und zwar wurde in den letzten Tagen durch Mitglieder der CDU, CSU und auch FDP der Eindruck erzeugt, Gendern würde die Gesellschaft spalten oder – so der Vorsitzende der CDU Friedrich März – sogar zum Umfragenerfolg der AfD beitragen:

Selbst wenn wir einmal komplett außer Acht lassen, ob diese Umfragergebnisse überhaupt eine relevante und vor allem dauerhafte Tendenz sind (siehe hierzu diese Tweets von Thorsten Faas), ist das auch ansonsten ziemlicher Humbug.

Gegen oder für etwas zu sein, hat nichts mit der Wichtigkeit zu tun

Es wird nämlich so getan, als haben Einstellungen zu einzelnen Themen irgendeinen Zusammenhang dazu, wie wichtig einem das Thema ist. Es mag sein, dass beim Gendern viele Menschen in Deutschland eine skeptische Haltung haben, Umfragen deuten ja darauf hin, aber das sagt nichts darüber aus, ob man daran Wahlentscheidungen fest macht.

Ansonsten hätten FDP und SPD ja starke Befürworter des Gendern sein müssen und die Union das Thema auch in den letzten Jahren getragen haben, so wie die Wählerwanderungen aussehen. Aber dazu später nochmal mehr.

Gendern ist ein Thema von vielen in dieser Gesellschaft und wahrscheinlich für die meisten ein ziemlich untergeordnetes. Man kann Medien frei wählen, die Gendern oder nicht und es ist nicht der große Aufwand das auszublenden. Und selbst wenn es einem auffällt, kann man es eigentlich ganz gut überhören oder überlesen. Selbst wenn es stört.

Auch wenn es nur anekdotisches Wissen ist, kann ich aus der Sicht eines Verlegers sagen, dass es fast egal ist, ob ein Buch gegendert ist oder nicht. Man muss es vernünftig und mit Augenmaß machen und es gibt – egal was man tut – immer etwas Kritik, aber damit muss man leben und – soviel sei gesagt – sie ist beim Gendern eines Buches höher als wenn man es mal nicht tut. Aber ob ein Buch erfolgreich ist oder nicht hängt nicht an dieser Frage, auch wenn einige versuchen dies gerne als Argument zu benutzen.

Und um die Anekdote komplett zu machen erinnere ich mich an ein Gespräch auf einer der letzten Cons: System Matters hat mit Agon ein Rollenspiel herausgebracht, was an die Odysseus Saga angelehnt ist und mit Doppelpunkt gendert. Ein Kunde hatte sich das angesehen, nachgefragt, wie wir so gendern und durchaus auch geäußert, dass man das mit den Doppelpunkten nicht so toll findet – und das Buch trotzdem gekauft. Weil am Ende eben verschiedene Faktoren zueinander kommen, die die Kaufentscheidung bestimmen.

Und so ist es doch auch bei der politischen Einstellung. Es gibt immer Themen, die einem wichtiger und unwichtiger sind. Es gibt Themen, die findet man in der einen Partei richtig gut und andere eher so mittel. Das geht auch Parteimitgliedern durchaus so. Politik ist eben immer ein Abwägungsprozess.

Darum ist es auch Humbug, gerade Gendern zu einem spaltenden Thema der Gesellschaft zu machen. Es ist vielen egal, selbst wenn man selber dagegen ist. Nicht allen, aber eben den meisten. Wo finde ich das Thema sonst bei den wahlentscheidenen Themen der Berlinwahl?

Themen werden abgewogen

Und um es mal andersherum aufzuziehen: 57 Prozent befürworten ein Tempolimit auf der Autobahn. Ist das jetzt auch ein die Gesellschaft spaltendes Thema? Nein. Ich mag es bedauerlich finden, dass es nicht kommt, aber es ist kein großes Thema im Alltag der Menschen oder von diese massiv von Bedeutung.

Das bedeutet nicht, dass solche Themen auf individueller Ebene nicht prägend sind: Jemand der gegen ein Tempolimit ist, wird wahrscheinlich weniger dazu tendieren die GRÜNEN zu wählen, während jemand der Gendert dies vielleicht eher tut.

Und auch das sind ja keine ausschließende Kriterien: Es ist völlig okay zu sagen, dass man gerne mal auf der Autobahn 200 rasen möchte, aber ansonsten die Politik der GRÜNEN okay findet oder – um mal auf die andere Seite der politischen Landschaft zu gucken – kann natürlich auch jemand, der sich mal einen Joint reinzieht auch trotz der ablehnenden Politik der Union zu Cannabis trotzdem Wähler der CDU sein.

Wie gesagt: Politik ist ein Abwägungsprozess und der beginnt in jedem Menschen in dieser Republik, der verschiedene Ansichten und Positionen in sich Abgleichen und gewichten muss. Niemals wird eine Partei die eigenen Ideale zu 100% vertreten.

Unterschiede als Stärke der Demokratie

Und das gilt am Ende auch für unsere demokratische Gesellschaft. Der Pluralismus ist eigentlich eine tolle Stärke unserer Gesellschaft und besagt laut Wikipedia folgendes:

Pluralismus als normative politische Idee bedeutet, dass dieser Wettbewerb unterschiedlicher und entgegengesetzter Interessen als legitim anerkannt und als wünschenswert betrachtet wird.

Wikipedia

Kurz gesagt: Es ist völlig okay, dass GRÜNE für und die Union gegen ein Tempolimit sind, genauso wie es bei der Legalisierung von Cannabis andersherum okay ist. Man hat natürlich andere Positionen, man streitet darum dafür im politischen Prozess Mehrheiten zu finden und wenn man diese findet, setzt man Politik um, aber es muss einen grundsätzlichen Respekt dafür geben, dass es andere Positionen gibt ohne diese zu dämonisieren.

Politik als Spiel

Politik ist für mich irgendwo auch ein Spiel. Nicht im inhaltlichen Sinne oder was die Ergebnisse angeht, sondern in den Prozessen. In der Politikwissenschaften wird Politik dafür in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die die Strukturen (polity), Inhalte (policy) oder eben Abläufe (politics) umfasst, aber das würde hier zu weit führen. Wer mehr zu dieser Aufteilung wissen will, mag gerne hier nachlesen.

Also während ich mir der Auswirkungen und Tragweite der Inhalte und Entscheidungen von Politik (policy) durchaus bewusst bin, ist der Weg dahin – sozusagen politics – immer ein Spiel um Mehrheiten, öffentliche Meinung und Umgang mit dem politischen Gegner.

Und dann muss es eben so sein, dass man sich im Parlament und in Reden den ein oder anderen Spruch zuwerfen kann, aber danach noch immer respektvoll miteinander aus dem Saal gehen kann. Weil man sich bewusst ist, dass der Kampf um Inhalte und Positionen natürlich auch mal hart geführt wird, aber am Ende der Respekt vor der anderen politisch aktiven Person erhalten bleibt.

Genau da beginnt für mich dann die Grenze zu undemokratischen Parteien, die andere wegen ihrer Positionen auch persönlich anfangen abzulehnen und bei denen man vor allem den Eindruck bekommt, dass – sollten sie jemals an die Macht gelangen – andere Positionen auch niemals mehr die Chance hätten, umgesetzt zu werden. Demokratie erfordert aber auch immer die Möglichkeit Entscheidungen zu ändern und nicht dafür verfolgt zu werden.

Und nur um sicher zu gehen: Rassismus ist keine Meinung in diesem Sinne. Generell kann niemand erwarten, dass man für eine Politik, die in irgendeiner Form gegen Menschengruppen gerichtet und damit respektlos gegenüber diesen ist, noch viel Respekt einfordern. Und wenn dies mit einem Absolutismus und einem Hass gegenüber anderen Positionen überein kommt, wird es schwierig.

Aber ich schweife ab. Nochmal zum Thema Spiele in der Politik: Regelmäßig gibt es irgendwo Anträge einer Oppositionspartei aus dem Wahlprogramm eines Koalitionsmitglieds in dem Wissen, dass dieses diesen im Parlament nicht mittragen kann, weil man sich in einem Koalitionsvertrag auf etwas anderes geeinigt hat. Das ist dann etwas „lustig“, weil die Partei dann gegen etwas stimmt, was sie vorher auf einem Parteitag beschlossen hat.

Lustig in Anführungsstrichen, weil es natürlich auch mit dem Gefühl spielt, dass vor Wahlen viel versprochen werde, was man anschließend nicht halte. Ich halte solche Spiele schon für gefährlich, weil sie vernachlässigen, dass es in Koalitionen eben Kompromisse braucht und niemals irgendeine Partei 100% ihrer Ziele umsetzen kann. Vielleicht in einer Alleinregierung und selbst dann gibt es noch Einflüsse, die man nicht beeinflussen kann. (Siehe GRÜNE Energiepolitik jetzt durch den Ukraine-Krieg)

Spaltung und Dämonisierung als Wahlkampf

Ich finde aber neben diesen Spielchen wird es aber wirklich problematisch, wenn man die Grenzen überschreitet. Also respektlos wird und es nur noch um das Vorführen anderer Parteien geht, als um wirkliche inhaltliche Politik.

Die angebliche Spaltung der Gesellschaft ist auch schon etwas, was in diese Richtung geht. Das Thema wird aufgebauscht, um diejenigen, die gegen das Gendern sind zu emotionalisieren gegen die, die es unterstützen oder weniger problematisch finden. Am Ende muss daraus ein „Wir gegen die“ werden, denn wo soll sonst die Spaltung laufen?

Bei Anne Will hatte das ein Teilnehmer als Risiko der Überpolarisierung bezeichnet. Wenn man keine wirklichen Streitpunkte findet, bauscht man einen Kulturkampf an den Dingen auf, die vielleicht etwas emotional sind und wo man hofft, dass irgendwas hängen bleibt. Aber dafür muss man Nichtprobleme auch erstmal aufbauschen. Die Mehrzahl aller Diskussionen über das Gendern kommt von denen, die es verhindern wollen, nicht von denen die es angeblich „durchdrücken“.

Und Mittelfristig kommt es genau darum zu einer Dämonisierung der anderen: Gendern spalte die Gesellschaft, also damit diejenigen, die Gendern unproblematisch sehen und man selber – der das Thema aufgebracht hat – verteidigt nur die Gesellschaft. Das passt perfekt in das Mantra der letzten Wochen.

GRÜNEN Bashing als einziges Element

Dass für einige Leute die GRÜNEN die Wurzel allen Übels sind, ist nicht neu. Seit Jahren gibt es vor allem wegen unserer Migrationspolitik Anfeindungen aus dem rechten Lager. Muss man leider mit klarkommen, auch wenn es den demokratischen Konsens lange verlassen hat.

Das Problem ist, dass nun auch FDP und Union glauben, dass sie damit irgendwie punkten können. Gendern und der Kampf gegen LGBTI* Rechte (bei der Union) sind da ja nur einige Punkte, die immer wieder hervorgekramt und jetzt ja sogar dramatisiert wurden.

Dazu dann Kritik am Heizungsgesetz von Robert Habeck und die zugegeben etwas ungünstige Stellenbesetzung im Wirtschaftsministerium und schon wurde losgeschossen. Aber auch da wurde im Versuch großmöglichsten Gewinn daraus zu ziehen teilweise über die Stränge geschossen, wenn auch Demokraten von „mafiösen“ Strukturen sprechen oder ganz bewusst falsche Aussagen in die Welt setzen.

Demokratie erfordert gegensätzliche Positionen und inhaltlichen Streit, aber die Dämonisierung eines politischen Gegners erzeugt nur das Bild der Schlammschlacht in der Politik. Wenn Überdramatisierung und persönliche Angriffe einfließen, wird der Boden einer guten Diskussion verlassen und nur noch darauf gesetzt, dass es dem anderen mehr schadet, als einem selbst.

Spaltung schadet am Ende nur den Demokraten

Das größere Problem: Wenn man mit den Worten von Undemokraten spielt, dann gibt man denen nur Legitimität. Wenn sich Union und FDP auf das Spiel einlassen, die GRÜNEN als Wurzel allen übels darzustellen, steigen sie in ein Spiel ein, was es seit 2015 bereits in Deutschland gibt und von der AfD und anderen rechten Bewegungen gespielt wird.

Wenn Union und FDP jetzt das Spiel mitspielen gegen das Gendern zu argumentieren und vielleicht als nächstes gegen andere „Woke“ Themen, dann sieht man in den USA gut, wohin das führen kann.

Das Mehrparteiensystem macht es etwas schwieriger, aber auch skurriler: In NRW (und anderen Bundesländern) reagiert die CDU mit den GRÜNEN, im Bund sitzt die FDP mit ihnen am Koalitionstisch. Wie skurril ist es dann eine solche Kampagne zu fahren und am Ende: Wie glaubwürdig?

Wen gewinnt man mit diesen Angriffen, wenn man gleichzeitig zusammen reagiert? Stattdessen stärkt man die Legitimationen von Aussagen aus dem rechten Lager und trägt so natürlich auch zur Stärkung der AfD bei.

Denn – soviel sei gesagt – die Wählerwanderung zur AfD kommt nicht von den GRÜNEN. Die Wählerwanderung kam immer stark aus der Union und jetzt zunehmend aus SPD und FDP. Dies sollte doch zu denken geben. Wenn man denen – SPD ausgenommen – nach dem Mund redet, wieso wandern dann Wähler ab?

Was wir brauchen ist eine Neuorientierung in der politischen Kommunikation, die weg kommt von einer Dämonisierung des politischen Gegners, weg von der Jagd nach den meisten Likes, weil man „was heftiges“ rausgehauen hat. Es muss wieder zu einem vernünftigen Umgang der Demokraten kommen. Weniger Spaltung herbeireden, sondern diese aktiv zu verhindern wäre mal ganz gut für uns.