Gestern tauchte immer wieder ein Video von Dieter Nuhr in meiner Twitter-Timeline auf, in der er das Hören auf die Wissenschaft als undemokratisch betitelte. Es ist nur ein kurzer Ausschnitt, von daher weiß ich das Vorher und Nachher nicht, aber trotzdem sind da schon zwei Probleme drin:
1. Wissenschaft ist demokratisch
Wenn man es genau nimmt, ist Wissenschaft als solches eigentlich ziemlich demokratisch – zumindest solange es die Freiheit der Forschung gibt. Wissenschaft lebt vom Widerspruch. Sie lebt von Studien, die von anderen Wissenschaftler:innen geprüft und kritisiert werden. Und erst über einen Schwung von Studien, der Prüfung der Ergebnisse und einer Diskussion der Ergebnisse bildet sich eine mehrheitliche Meinung heraus. Das ist kein Prozess von heute auf morgen mit einem weisen Mann oder einer weisen Frau, wie Nuhr es darstellt.
Gerade im Bereich Klima, den Nuhr mit „Fridays for Future“ herausgreift, sieht man das doch eindeutig: 800 Autor:innen waren an dem letzten Sachstandsbericht des IPCC beteiligt, der 230.000 Studien analysierte und in einem Bericht zusammenführte. Gibt es Studien mit anderer Ansicht? Sicherlich, aber am Ende findet man auch heutzutage noch Berichte, die die Erde zu einer Scheibe machen und Gravitation ablehnen. Ist das aber der Standard? Wohl kaum.
Wissenschaft versucht Wahrheiten zu finden. Sie versucht unsere Realität zu beschreiben und Prognosen für die Zukunft zu gestalten. Wenn sich irgendwann dabei eine Tendenz herausstellt, ist das im Rahmen eines längeren Prozesses entstanden, der jederzeit umgeworfen werden kann, wenn eine neue Studie nachhaltig die Prognosen und Ergebnisse der anderen in Frage stellen kann. Solange dem nicht so ist, sollte man sich aber fragen, mit welchem Selbstverständnis man als Laie (oder Comedian) man sich über die Leute erheben kann, die genau dies seit Jahrzehnten machen.
2. Politik hat eine andere Aufgabe
Als Politikwissenschaftler diesen Satz zu schreiben klingt erstmal seltsam, aber auch Politikwissenschaftler machen ja keine Politik – sie analysieren sie nur. Und ich stimme Nuhr sogar etwas zu: Absolute Wahrheiten gibt es nur selten. Das ist der Kern der Politik.
Bei Benjamin Barber und seiner Politikdefinition stand die Frage im Raum, ab wann etwas ein Dissens ist. Den diesen braucht es für die Politik. Wenn etwas unumstritten ist, ist es bald aus der Politik heraus. Wir reden in der Regel eben zum Beispiel nicht mehr darüber, ob die Erde eine Scheibe ist.
Was Politik aber macht, ist sich über Wege zu unterhalten oder über Gewichtung. Und da beginnt dann auch Demokratie und der Aushandlungsprozess. Politik nimmt Wissen und Einschätzungen von allen Seiten auf, um daraus Gesetze, Richtlinien oder Entscheidungen zu formen.
Man kann es auch Lobbyismus nennen, der so seinen Einfluss nimmt, aber das würde vielleicht zu weit führen, weil man über den Begriff lange diskutieren kann. Aber wir erleben doch immer wieder, wie Politik sich von verschiedenen Gruppen beeinflussen lässt. Unternehmen, die der Politik erklären, wieso Verbrennermotoren doch eine gute Idee sind. NGOs, die versuchen die Politik darauf hinzuweisen, dass es nicht so cool ist, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Oder eben Wissenschaft, die deutlich macht, dass es bei 2-3 Grad Erderwärmung in weiten Teilen der Erde zu Zuständen kommen wird, in denen der homo sapiens nicht mehr gut überleben kann.
Aufgabe von Politik ist es nun, diesen Einfluss aufzunehmen, abzulehnen oder zu gewichten. Und jeder dieser Einflüsse hat die Wahrheit immer irgendwie für sich gepachtet. Bei der Wissenschaft kann ich aber zumindest nachvollziehen, wie sie zu den Ergebnissen kommt.
Fazit: Demokratie ist ein Prozess
Wir erleben es doch gerade, dass diese angeblich undemokratische Situation, die Nuhr da aufbaut, überhaupt nicht existiert. Wissenschaftler:innen warnen seit Jahrzehnten vor der Klimakatastrophe, aber es kümmerte niemanden. Und heutzutage ist es auch für viele noch sooo weit weg, dass man das Thema einfach ignoriert – egal wie eindeutig die Quellenlage ist.
Das es einen menschengemachten Klimawandel gibt, ist inzwischen eine Tatsache geworden, die vom rechten Rand mal abgesehen, auch in der Politik als gegeben angesehen werden kann. Zumindest höre ich auch von FDP- oder Unions-Politiker:innen kaum einen wirklichen Zweifel daran. Diesen Bereich der Wissenschaftlichkeit hat man also angenommen. Man hält nur – warum auch immer – deren Prognosen für falsch oder gewichtet andere Themen eben wichtiger. Leider.
Der Grund: Politik ist ein Prozess des Interessenausgleich. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, dass es eben einen Teil der Politik gibt, der der aktuellen Generation nichts zumuten möchte und für die selbst etwas weniger Rasen auf der Autobahn ein Problem ist, während eine andere versucht, dieses Thema nicht nur zukünftigen Generationen aufs Auge zu drücken. Fakt ist jedenfalls: Demokratie zeigt sich darin, diese verschiedenen Interessen in einen Ausgleich zu bringen.
Und selbst, wenn es unbestreitbare Fakten gibt, endet Politik doch nicht unbedingt. Nehmen wir den Ukraine-Krieg: Nur wenige bestreiten, dass Russland den Krieg mit einem Angriff auf die Ukraine begonnen hat. Trotzdem dreht sich Politik, um diese Fragen, was daraus folgt: Waffenlieferungen? Muss man Rücksicht auf Russland nehmen? Selbst wenn es also einen allgemeinen Fakt gibt oder die Einigung auf einen solchen, folgt daraus keine stromlinienförmige Politik, wie Nuhr es irgendwie andeutet.
Nuhr geht es am Ende mit seinem Statement weniger um die Demokratie. Die kam schon immer mit verschiedenen Positionen gut klar. Nuhr spielt stattdessen darauf an, dass man bestimmte Meinungen ja nicht mehr sagen könne oder dürfe und damit wieder diese Opfermentalität, die sich bei diesem „gecancelten“ ARD-Comedian in letzter Zeit öfter wiederfindet. Nur weil ihm die Mehrheitsmeinung der Wissenschaft und deren Einschätzung nicht passt, diskreditiert er diese als „undemokratisch“ und diejenigen, die eine andere Position haben zu besseren Demokraten? Ob das am Ende wirklich die Demokratie fördert?